Kurt Eisner
Kulturstiftung
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Preis der Kurt Eisner Kulturstiftung 2023 für Friedemann Derschmidt

Friedemann Derschmidt, Wien

Das Kuratorium verleiht Friedemann Derschmidt (*1967, Salzburg) den Preis der Kurt Eisner Kulturstiftung für sein Lebenswerk einer kontinuierlichen künstlerischen Praxis.

Mit seiner Kunst agiert Friedemann Derschmidt im Öffentlichen. Bereits eine seiner ersten transnational angelegten Arbeiten – Permanent Breakfast – befragt explizit das Öffentliche des öffentlichen Raums.

Das von ihm 1996 ins Leben gerufene "immerwährende" und auf Beteiligung setzende Kunstprojekt besteht in einer Pyramidenspiel-artigen Reihe, in der bis heute immer mehr Menschen Plätze "befrühstücken". Dieses Projekt befragt nicht nur den Grad von Öffentlichkeit, sondern auch die jeweils vorherrschende Freiheit und „Erlaubniskultur“, die an einem Ort vorherrscht.

Kollektive und kommunikative Herangehensweisen bilden auch die Basis weiterer, wegweisender Arbeiten. In der mehrjährigen Langzeitstudie über sechs Generationen „Reichel Komplex“ befragt Derschmidt die Geschichte der eigenen, erweiterten, Großfamilie. Das daraus hervorgegangene Buch „Sag Du es Deinem Kinde – Nationalsozialismus in der eigenen Familie“ stellt die Frage, wie sehr sich die „Erbschaften der Vergangenheit“ auf uns und unser heutiges Leben auswirken.

Das Projekt „Family Archives“ geht darüber hinaus und sucht in einem kuratorischen wie künstlerischen Prozess Kooperationen mit anderen Künstlerinnen und Künstlern und deren sehr unterschiedlichen Familien-Narrativen. Hier geht es um die bewusste Auseinandersetzung mit den jeweils eigenen Familien, jedoch jenseits eines einfachen Erinnerns von Opfer- und Täter-Familien. Diese kollektive Arbeit ging aus dem Projekt „Two Family Archives“ mit dem israelischen Künstler Shimon Lev hervor.

„Knietief bei den Historiker:innen und mit den Ellenbogen bei der Psychologie“, umreißt Friedemann Derschmidt seine Ausformung kunstbasierter Forschung. In den jeweiligen Wissensfeldern methodisch profund und in der Gesamtschau künstlerisch herausragend.

Grundlage der von Derschmidt entwickelten synoptischen Methode ist die Erkenntnis, „dass Erinnerung darauf zielt, eine Erzählung zu finden, mit der wir jetzt leben können“. Ursprünglich ist die synoptische Methode im Austausch mit Überlebenden des Holocaust entwickelt worden. Sie war von Anfang an durch die Frage motiviert, mit welchen Mitteln Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Gesprächs, ein tieferes Zuhören und Mitteilen von Erinnerungen ermöglichen können? Diese künstlerische Strategie ist nicht hoch genug einzuschätzen, gerade weil unter digitalen Vorzeichen, z.B. der Sozialen Medien, die jeweiligen Echokammern und Informationsblasen sichtbarer werden und dadurch deutlich wird, in welcher Tiefe, die jeweiligen Rezipientinnen die Erzählung verändern.

Zur Zeit sind im Haus der Geschichte Österreichs (Ausstellung „Vielgeschichtig“) und im Wiener Künstlerhaus (Ausstellung „Systemrelevant“) Ergebnisse des von Friedemann Derschmidt geleiteten kunstbasierten Forschungsprojekts „Synoptic Storytelling in a Multidirectional Vienna“ zu sehen. In beiden Ausstellungen widmet sich Derschmidt der von ihm entwickelten Methode der synoptischen Porträts. Sie weisen über den einschränkenden Begriff des „Zeitzeugen“ hinaus in die Gegenwart. In der Videoinstallation sind sechs Porträts mit 31 Gesprächen in sechs Sprachen zu sehen. Obwohl die Gesamtdauer der Dialoge etwa 40 Stunden beträgt, muss diese Komplexität nicht gefürchtet werden. Ganz im Gegenteil besteht der Gewinn darin, die unterschiedlichen Erzählungen in ihrer Fragmentiertheit zueinander und zugleich, also synoptisch, wahr zu nehmen. Die Summe der verschiedenen Narrative geht weit über das jeweils Einzelne hinaus und verweist auf ein größeres und humaneres Gesamtes.

Friedemann Derschmidts künstlerische Arbeit entspricht in besonderer Weise den Zielen der Kurt Eisner Kulturstiftung, die als lebendiges Denkmal an Kurt Eisner erinnert und Kunst fördert, die politisch Position bezieht, gesellschaftspolitische Bezüge sichtbar macht und kritisch reflektiert. Gemäß dem berühmten Zitat: „Kunst kann nur gedeihen in vollkommener Freiheit … Der Künstler muss als Künstler Anarchist sein ...“

(Kurt Eisner in der Rede vor dem provisorischen Nationalrat am 3.1.1919).



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