Preisträger 1993: Christian Boltanski
The Missing House
Christian Boltanski bearbeitete in Berlin eine Baulücke, die 1945 durch eine Bombe gerissen wurde. Auf den beiden Brandmauern sind jeweils zwölf weiße, schwarz umrandete Holzschilder (120x60cm) angebracht. Auf jedem Schild ist der Name eines ehemaligen Mieters, sein Beruf und die Zeit, in der er bis zur Zerstörung des Hauses in ihm gewohnt hat, in schwarzen Lettern der Type Helvetica notiert. Die Information verweist also auf drei konkrete Sachverhalte.
1. Mit dem Nachnamen und dem abgekürzten Vornamen ist ein individuelles Menschenleben mit einer persönlichen Geschichte angesprochen. Das Verbindende dieser Personen ist der Aufenthalt in diesem Haus. Sie sind keine historischen oder berühmten Persönlichkeiten, sondern für uns heute unbekannte Menschen, die aber durch das Werk Boltanskis zu historischen Persönlichkeiten werden.
2. Die Jahreszahlen interessieren sich nicht für die Daten dieser Persönlichkeiten. Sie fixieren lediglich die Dauer, die in einem geschichtlichen Moment abrupt beendet wird. Sie kombinieren individuelle Lebensgeschichte und Weltgeschichte.miteinander.
3. Die Berufsangaben sind Teil einer Soziologie nicht nur des Hauses, sondern der gesamten Straße. Zudem verweisen sie auf andere Häuser in Berlin, in denen die Arbeit stattfindet; denn nur wenige Menschen verdienen ihr Geld zu Hause.
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Um diesen Raum als Stätte der Erinnerung und gleichzeitig als poetischen Ort zu konstruieren, bedurfte es zeitaufwendiger Vorarbeiten. Es galt nicht nur die Namen der ehemaligen Bewohner des Hauses zu ermitteln, was relativ leicht über die alten Adressbücher erreicht werden konnte. Es konnten über hundert Personen ermittelt werden, die in diesem Haus gelebt hatten. Aber in Hinblick auf die von Boltanski avisierte Zeitspanne vor 1945 verdichtete sich die Recherche. Die Namen sollten lebendig werden. Boltanski, der bisher nur imaginäre, scheinbare Archive angelegt hatte, versicherte sich der Mitarbeit von Christiane Büchner und Andreas Fischer, die vor Ort lebende papierne Zeugen suchten und fanden. Mit seinen Mitarbeitern verläßt der Künstler den Boden der künstlerischen Spurensicherung und wird Historiograph. ... Boltanski, Büchner und Fischer finden Fotoalben, konnten mit vielen Zeitzeugen sprechen, konnten Nachfahren der Bewohner ausfindig machen. Doch die wichtigste Quelle sind die Archive.
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Das so angehäufte Material aus Interviewabschriften, Fotokopien, Originalphotos, Reproduktionen, Postkarten, eigenen Fotos Fundstücken usw. wurde parallel zum Missing House als The Museum in zehn Glasvitrinen, die formal das Prinzip eines Hauses wieder aufnahmen, auf dem ehemaligen Ausstellungsgelände der Berliner Gewerbeausstellung in Alt-Moabit ausgestellt.
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Wenn Boltanski, Büchner, Fischer an diesem Ort ihr kleines Museum im Freien inszenieren, konterkarieren sie den Begriff des Museums selbst. Boltanski, der ja schon früh mit den ästhetischen Phänomenen dieser Institution umgegangen ist, wagt sich mit seinen Mitarbeitern in einen ungeschützten Raum und zeigt unter Bäumen eine Sammlung, die weniger musealen, sondern vielmehr archivalischen Wert besitzt. Er negiert damit die Geschichte des Museums, das sich zunehmend der Hochkultur verpflichtet fühlt ... und benutzt den Begriff wieder in seinem ursprünglichen Sinn, als Ort der Sammlung, an dem das Unsichtbare öffentlich sichtbar wird, das Unbedeutende bedeutend.
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Schon vierzehn Tage nach der Aufstellung der Vitrinen wurde The Museum von Unbekannten zerstört. Eine Auswahl aus den Materialien bietet jetzt das Heimatmuseum Berlin Mitte.
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Text nach Michael Grasmeier: The Missing House, Berlin 1992, zitiert in: Neue Zeitung, Nr 3 vom 8. November 1993, Sonderausgabe anlässlich der Verleihung des Kurt Eisner-Preises 1993 an Christian Boltanski in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München
Auf der website mit Hinweisen auf Gedenktafeln in Berlin findet sich unter T: The Missing House eine Auflistung der Namen, die Christian Boltanski dort angebracht hat. Hier der Link auf diese Seite.